Winter in Orschwiller

Ende September war das Wetter umgeschlagen. In der Nacht gab es leichten Frost und auch tagsüber war es empfindlich kalt. – Ich war nur zufällig nach Orschwiller gekommen und wollte mich gar nicht lange aufhalten – aber da sah ich ihn: HWH war – gebückter als sonst und merklich gealtert – auf dem Weg in die Auberge. Er suchte sich einen Platz am Fenster und sah mir müde entgegen als ich – wie zufällig – kurz nach ihm eintrat und ihn fragte, ob ich mich zu ihm setzen dürfe.

Er zögerte etwas; dann erinnerte er sich an unser Gespräch im Sommer, begrüßte mich verhalten und rückte mir den Stuhl zurecht, der schräg gegenüber am Tisch stand.

Ach ja, Sie sind es! Wir haben miteinander ‚Literatur‘ gesprochen: Sätze, die gut klingen, und alle möglichen Haltungen und Stimmungen annehmen … und mich habe diese Sätze sehr abgeklärt gemacht, fast heiter und sanft resigniert … aber natürlich ist die Weltlage nicht nach Literatur … unser Sommer ist so weit weg wie die Weimarer Klassik und die hat ja auch schon einiges hinter sich … ich glaube nicht mehr an die Zukunft … und ohne Glauben an die Zukunft gibt es keine Literatur, zumindest keine, die gestaltet ist, die sich vorführt und so tut, als würde sie in zehn Jahren noch gelesen …

„Endlich am Ziel! Endlich in Orschwiller!“

Im Spätsommer habe ich Hans Werner Hirschkäfer getroffen. Er saß – mit Strohhut, ein Glas Rotwein vor sich – auf der Terrasse einer Auberge. Keiner der anderen Gäste erkannte den Autor, der schon in jungen Jahren mit dem Roman „Das abbe Bein“ für Aufsehen gesorgt hatte, mit der tragischen Novelle „Hirschhase heißt ein Orsch“ einen Skandal provozierte und schließlich für die Satire „Mein Name sei Orschulok“ mit Preisen und Ehrungen überhäuft wurde. – „Ich habe nie gerne geschrieben“ gestand er mir. „Ich wollte immer nur einer sein, der geschrieben hat! Und jetzt – hier, am Ziel, in Orschwiller – bin ich angekommen und kann endlich der sein, der ich in der Form der Gegenwart nie sein wollte, und der ich jetzt, in der Perspektive der Vergangenheit, so gerne bin“.

„ Zuerst ist das einfach nur ein Gefühl, eine innere Wahrnehmung, vielleicht auch eine bewusste Haltung. Sie hängt damit zusammen, dass sich  mein Leben hier – in der Form des Rückblicks –  fast schon in Literatur verwandelt hat …  wenn die Kunst nur der Widerschein der Wirklichkeit ist und nicht die Wirklichkeit selbst, dann bekommt das Dargestellte eine andere Qualität, beinahe ein Eigenleben … das  entlastet von der bedrängenden, unmittelbaren  Erfahrung, die sich – auf diese Art gefiltert – wie in einer Zwischen-Wirklichkeit zeigt … das strebe ich als Lebensprinzip an und übe es täglich …“

Ich wusste, dass Hans Werner Hirschkäfer nicht gerne auf sein frühes Werk angesprochen wird. Aber wo, wenn nicht hier, in diesem elsässischen Dorf, das neben den Blessuren seiner Geschichte und den gegenwärtigen Widersprüchen einen unbezwinglichen Willen zur Selbstbehauptung und zur bewussten Illusion bewahrte – wo, wenn nicht auf der Terrasse dieser Auberge sollte man das Recht haben, darauf zu sprechen zu kommen.

„Ach ja, diese frühen Sachen … wenn man jung ist, da trennt man nicht zwischen der Art, wie man die Welt wahrnimmt und wie sie möglicherweise wirklich ist. Man nimmt das ganze innere Durcheinander für die einzige Wahrheit – und es wäre wohl etwas viel verlangt, das nicht absolut, sondern nur als Reflex zu sehen … und das „abbe Bein“ … na ja, wer will, kann bei diesem Titel ja auch an die „Strudlhofstiege“ denken … damals wollte ich wohl zeigen, was das Materielle und dass man „ein Ding“ in der Welt ist, aus uns macht … da war schon Protest und Rebellion dabei, eine Reaktion auf das Begrenzt- und Verletzbar-sein und dass man nicht mehr zählt, wenn man zerschrammt und beschädigt ist  … der Körper ist ja grundsätzlich eine unzuverlässige Angelegenheit und macht mit einem, was er gerade will, da braucht es gar keine Straßenbahn dazu  … heute sage ich – und das ist fast schon metaphysisch – man soll sich davon nicht allzu sehr beeindrucken lassen … so richtig im Leben ist man erst, wenn man das Leben respektiert und es gleichzeitig nicht allzu ernst nimmt“.